Nur noch kurz die Welt retten…
- TU News
Das Thema „nachhaltige Entwicklung“ trendet – und ist längst auch in die Pädagogik eingezogen. Insbesondere der Religionsunterricht scheint prädestiniert dafür, Kinder und Jugendliche an die UN-Ziele für eine gerechtere und gesündere Welt heranzuführen. Es ist aber nicht damit getan, den Nachwuchs zu kleinen Öko-Expert*innen zu erziehen, warnt Claudia Gärtner, Professorin für Praktische Theologie an der TU Dortmund, und plädiert für eine politische Religionspädagogik.
Wer in den 1980er-Jahren aufwuchs, konnte nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Welt, in die er oder sie geboren wurde, 40 Jahre später überhaupt noch existieren würde. Saurer Regen, vergiftete Flüsse, Waldsterben, Atomtod: Es mangelte nicht an Katastrophen-Szenarien, mit denen die Heranwachsenden in Medien, Schule und Gesellschaft konfrontiert wurden. Manch eine*r flüchtete sich angesichts der Hoffnungslosigkeit in Fatalismus: Ich kann eh nichts machen, nach mir die Sintflut! Die blieb bislang aus, und die Welt dreht sich weiter. Noch.
Heute sind es die Jugendlichen selbst, die für eine bessere Zukunft auf die Straße gehen – oder vielmehr dafür kämpfen, überhaupt noch eine Zukunft zu haben. Die historisch beispiellose „Fridays für Future“-Bewegung (FFF) mobilisiert junge Menschen auf der ganzen Welt – und begeistert damit auch Prof. Claudia Gärtner. „Es ist beeindruckend, welch starke Rolle die Jugend in dieser Debatte plötzlich spielt“, findet die Theologin, deren neues Buch „Klima, Corona und das Christentum“ von der FFF-Bewegung beeinflusst ist. Ihr Thema: die Bedeutung und Aufgabe der Religionspädagogik in den Zeiten der Krise.
Jugendlichen für ihre Themen Räume geben
(Fakten-)Wissen zum Klimawandel wird in den Fächern Biologie, Erdkunde, Physik oder Chemie vermittelt: Die Schüler*innen lernen, welche globalen Auswirkungen Naturkatastrophen haben, wie die natürlichen Lebensgrundlagen schrumpfen, wie sich das Leben in den Meeren verändert und welche Energiequellen welche Auswirkungen auf Umwelt und Ressourcen haben. Wichtig ist der Pädagogik dabei stets der Transfer in den Alltag der Schüler*innen: Was kann man selbst tun, um sich klima- und umweltgerecht zu verhalten? Schon in Kindergarten und Grundschule lernen die Kinder, den Müll richtig zu trennen, Wasser nicht zu verschwenden oder das Licht auszuschalten.
In der Religionspädagogik fand der Ansatz der „Umwelterziehung“, die in den 1970-er Jahren mit der Ökobewegung aufkam, schon immer große Offenheit. Sie schloss nahtlos an die Themen und Ziele der religiösen Bildung an. „Die theologische Ableitung liegt in der Bewahrung der Schöpfung. Wie wollen wir gut auf der Welt leben? Diese Frage ist tief in die Religion eingeschrieben“, sagt Prof. Claudia Gärtner. Heute, da die Jugend diese Themen selbst einfordert, sieht Gärtner die Religionspädagogik umso mehr in der Pflicht: „Wir müssen Jugendlichen Räume geben, mit ihren Anliegen Gehör zu finden.“
Aus Sicht der Religionspädagogik liegt hier eine große Chance, Kinder und Jugendliche (neu) zu erreichen. „Religion kann Antworten darauf geben, warum es sich trotz einer ungesichert scheinenden Zukunft noch lohnt, zum Religionsunterricht, ja: überhaupt zur Schule zu gehen. Wir haben die Großerzählung, dass der Mensch ein Teil der Welt ist, nicht ihr Herrscher, und dass wir gemeinsam gut auf der Welt leben müssen und können. Vernetzt mit der Welt – so die christliche Botschaft.“ Anstatt Heranwachsende wie früher mit negativen Konsequenzen zu konfrontieren, arbeite Religion mit Visionen, mit einer Hoffnungsperspektive und könne zeigen, wie ein gutes Leben aussehen könne, so Gärtner. „Religionen sind noch immer wichtige Player in der Gesellschaft. Wenn es dieser Gemeinschaft gelingt, dass Menschen einen umweltbewussteren Blick auf die Welt entwickeln, sind das große Stellschrauben für die Bewältigung der Krise.“
Von Krise zu Krise
Doch wie kann ihr das gelingen, der Religionspädagogik? Nutzt sie da nicht die aktuelle gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die Themen der Nachhaltigkeit derzeit unter Jugendlichen haben, und versucht, sie religiös umzudeuten? „Klima, Corona und das Christentum“ – was haben diese drei Begriffe aus dem Titel des neuen Buchs von Prof. Claudia Gärtner überhaupt miteinander zu tun?
Der Untertitel lässt ahnen, wohin die gedankliche Reise geht: „Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt“. Krisen wie die Corona-Pandemie und der Klimawandel, letztlich auch die massiven Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre seien Phänomene vergleichbaren Ursprungs, sagt die Autorin – und die Reihe krisenhafter Ereignisse ließe sich mühelos fortschreiben.
Die Zerstörung der Biodiversität und des natürlichen Lebensraums von Tieren sowie enge Besiedlungen führten dazu, dass Viren schon seit Jahrzehnten mehr und mehr von Tier zu Mensch übertragen worden seien, was schon vor Corona immer wieder größere oder kleinere Epidemien ausgelöst habe. Der Klimawandel sei auch eine Ursache für manche Migrationsbewegungen. „Die Themen Klima und Corona sind nicht losgelöst von anderen ökologischen Krisen und sozialen, kulturellen, politischen oder ökonomischen Diskursen zu betrachten“, heißt es in Gärtners Buch.
Viele Krisen, mit denen wir umzugehen haben, sind letztlich Auswüchse unserer Lebensart und hängen miteinander zusammen. In dieser von Krisen geschüttelten Welt, so Gärtners These, sei es eine Kernaufgabe der religiösen Bildung, auf die komplexen Zusammenhänge hinzuweisen und Heranwachsende zu einem kritischen Denken zu befähigen, ihnen auch Alternativen anzubieten. So widersprächen die Religionen fundamental dem in Politik und Ökonomie häufig geäußerten Argument der Alternativlosigkeit. „Religionen besitzen ein visionäres, ja utopisches Potenzial, indem sie Erzählungen und Hoffnungen auf ein anderes Leben, eine andere Welt aufzeigen“, sagt Gärtner. Schon in den 1970er-Jahren wurde daher als Zielrichtung für den Religionsunterricht formuliert, dass dieser sich nicht zufrieden geben kann mit der Anpassung der Schüler*innen an die Welt, sondern auch „auf Proteste gegen Unstimmigkeiten und auf verändernde Taten“ zielen solle. „Und da ist der Religionsunterricht ganz nah dran an den Jugendlichen von Fridays for Future, wenn diese auf ihren Demos skandieren ‚We are unstoppable. Another world is possible!‘“
„Moral, Haltung – das entwickelt der Mensch nicht allein“
Eine Autowerbung in der Hauptmensa des Studierendenwerks auf dem TU-Campus fällt ihr spontan ein. Abgebildet sind junge, offenbar beruflich erfolgreiche Menschen, denen das Automobil als Statussymbol dient. „Solche unterschwelligen Botschaften ärgern mich sehr“, sagt Gärtner. „Wir müssen zu anderen Geschichten und Identifikationsmomenten kommen – Geschichten, wie man im Einklang leben kann mit der Schöpfung. Moral, Haltung – das entwickelt der Mensch nicht allein, da brauchen wir Orte und Räume, um uns darüber auszutauschen. Das kann Kirche sein, aber auch der Unterricht in der Schule.“ Religionspädagogik heute muss, fordert sie, eine politische sein. Damit geht Gärtner einen Schritt weiter, als es in der Praxis der Religionspädagogik, aber auch im kirchlichen Alltag meist gelebt wird.
Natürlich hätten Themen wie der Klimawandel in den Religionsunterricht längst Einzug gehalten, sagt Prof. Claudia Gärtner. Wenn das Thema „Propheten“ behandelt werde, werde auch die Rolle von Greta Thunberg diskutiert: Ist sie eine moderne Prophetin? Wenn es im Unterricht um die Bewahrung der Schöpfung gehe, schickten Lehrkräfte die Klasse zum Müllsammeln in den Schulgarten. Wenn in der Gemeinde ein Pfarrfest geplant werde, werde selbstverständlich über den Verzicht von Plastikgeschirr debattiert. „Dadurch erhalten diese Themen zwar alltagsrelevant Einzug in religiöse Diskurse“, sagt Gärtner, „aber eine religionspädagogisch wie auch theologisch ausreichend komplexe Bearbeitung der Schlüsselprobleme findet nicht statt.“
Nachhaltig – aber wie?
Tatsächlich weisen die Herausforderungen unserer Zeit auf den Streif am Horizont: Nachhaltiges Handeln und eine nachhaltige Weiterentwicklung der Welt können uns noch retten. „Nachhaltig ist eine Handlung, Lebensform oder Wirtschaft, die so mit ,der Natur‘ umgeht, dass sie von jeder und jedem anderen überall und immer wiederholt bzw. geteilt werden könnte“, sagt Gärtner. Damit ist Nachhaltigkeit viel mehr als nur umweltbewusstes oder klimagerechtes Handeln jedes Einzelnen. Die 2016 von den Vereinten Nationen verabschiedeten 17 Nachhaltigkeitsziele reichen deshalb von der Armutsbekämpfung über einen Zugang zum Gesundheitswesen und Bildung für alle bis hin zu Geschlechtergerechtigkeit und nachhaltigem Konsum, Klima- und Gewässerschutz sowie Frieden und Gerechtigkeit – und zwar weltweit.
Das sind, jedes für sich, wichtige und richtige Ziele – doch legt man sie gleichberechtigt nebeneinander, fällt auf, dass es untereinander durchaus Spannungsfelder gibt. „Wohlstand für möglichst viele – wie geht das einher mit dem Ziel der Ressourcenschonung? Was macht es mit den Wasserressourcen, wenn ich das Wirtschaftswachstum ankurbele?“, fragt Gärtner. Blickt man durch die ökologische Brille auf die 17 Ziele, kommt man zu anderen Gewichtungen und Einschätzungen als ein Ökonom. „Es ist wichtig, das Ganze wahrzunehmen und sich den Widersprüchen, der Komplexität des Problems zu stellen“, findet Gärtner – zum Beispiel im Religionsunterricht.
Zum Weiterdenken anleiten
Nun fällt es weitaus leichter, sich um individuelle Handlungsimpulse zu kümmern oder diese als Lehrkraft zu fördern. Selbst Wasser einzusparen führt eher zur individuellen Zufriedenheit und suggeriert Handlungskompetenz, als die komplexe Frage zu diskutieren, warum multinationale Konzerne Trinkwasser abzapfen und verkaufen dürfen. Religionspädagogik habe aber auch dank der Flexibilität im Curriculum die Chance, zum Weiterdenken anzuleiten, findet Gärtner: „Wir können Themen aufgreifen, die die Schüler*innen aktuell bewegen und umtreiben. Religion ist schon immer ein Querschnittsfach gewesen für Fragen der Ethik.
Woher kommt denn der Müll auf dem Schulhof? Warum ist es im Discounter billiger als im Unverpackt-Laden? Wie können wir als Schulgemeinschaft Modelle finden, weniger Müll zu produzieren? Mir ist es ein starkes Anliegen, solche Fragen immer wieder aus der individuellen Ebene zu holen und deutlich zu machen, dass sie in politischen, ökonomischen Kontexten stehen“, sagt Gärtner.
Schön, wenn Kinder im Laufe ihrer Schulzeit zu Expert*innen für Mülltrennung oder das Energiesparen im Haushalt werden – „aber noch wichtiger finde ich, dass sie die Strukturen durchschauen. Nur so lässt sich eine nachhaltige Gesellschaft strukturieren. Es braucht eine Übersetzung in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs hinein. Und da hat Religion andere Geschichten zu bieten.“ So verweist die Schöpfungstheologie auf die Mitgeschöpflichkeit, also auf die Vernetzung von Mensch, Tier und Pflanzen. Die Natur ist demnach keine Ressource des Menschen, sondern der Mensch ist Teil einer Schöpfungsordnung. Und ein solcher Blick auf die Welt deckt auf, dass viele Nachhaltigkeitsbestrebungen letztlich darauf zielen, die Welt nur soweit zu schützen, dass sie weiterhin als Ressource für stetiges Wachstum zur Verfügung steht.
Ein solcher Religionsunterricht würde der Religion eine wichtige gesellschaftliche Rolle zuweisen und von der Chance erzählen, die Gesellschaft mitzugestalten. „Das Ziel ist es, Menschen darin zu stärken, ein Leben in Solidarität zu führen. Das ist ein ureigenes diakonisches, ein interreligiöses Anliegen. Es gibt auch in der islamischen Theologie darüber einen starken Diskurs“, sagt Prof. Claudia Gärtner.
Nachhaltige Entwicklung war allerdings nicht immer ein religiöses Kernthema. Es gab über Jahrhunderte durchaus auch eine Lesart der Schöpfungsgeschichte, nach der sich der Mensch die Erde untertan zu machen habe: als Herrscher und Krone der Schöpfung. Religiöse Gruppen, die die Bibel wörtlich nehmen, propagieren das teilweise noch immer. „Dahinter steht eine falsche Übersetzung aus dem Hebräischen, die Passage heißt tatsächlich ‚die Erde hegen‘“, sagt Gärtner, „doch wir müssen uns dem Thema stellen, auch im Religionsunterricht. Wir haben auch unsere Schatten in der Geschichte und Bereiche, in denen Religion instrumentalisiert wurde und immer noch wird.“
Text: Katrin Pinetzki
Zur Person
Prof. Claudia Gärtner lehrt und forscht seit 2011 als Professorin für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik an der TU Dortmund. Sie leitet das Institut für Katholische Theologie und ist Prodekanin für Forschung und Diversität an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie. Ihre Schwerpunkte sind religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, ästhetisches Lernen, fachdidaktische Unterrichts- und Entwicklungsforschung, Dimensionen religionspädagogisch-hermeneutischer Forschung und religiöse Bildung in der Ganztagsschule.
Sie studierte Katholische Theologie, Kunst und Erziehungswissenschaft an der Universität Paderborn und am Institut Catholique/Centre Sèvres in Paris. Nach ihrer Promotion in Systematischer Theologie war sie langjährig als Gymnasiallehrerin tätig. Es folgte eine Habilitation in Religionspädagogik/Didaktik der Systematischen Theologie an der WWU Münster.
Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.