Weniger ist mehr
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Schon seit Ende der 1960er Jahre dreht sich die politische Diskussion darum, den Verkehr zu vermeiden, zu verlagern oder ihn verträglicher abzuwickeln. Seit über 60 Jahren werden Strategien zur Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs entwickelt und gefordert, aber kaum umgesetzt. Flächendeckende Erfolge zeigen sich nicht. Deshalb interessierte die beiden Professoren der Fakultät Raumplanung – Christian Holz-Rau und Karsten Zimmermann – die Frage, wie wirksam Verkehrsplanung und -politik sind und ob die gewählten Strategien, Instrumente und Verfahren zu den formulierten Zielen führen.
Daraus entstand das Forschungsprojekt „Wirksamkeit strategischer Verkehrsplanung und Verkehrspolitik“, das durch zwei Disziplinen geprägt ist. Christian Holz-Rau ist im Bereich Verkehrsplanung und -wesen zu Hause. Karsten Zimmermann bringt die Sicht eines Politikwissenschaftlers ein. Das ist es auch, was das Forschungsprojekt ausmacht: ingenieur- und politikwissenschaftliche Perspektiven, verknüpft mit Erfahrungen aus der Praxis. Das Vorhaben wird vom Verkehrsministerium des Landes NRW gefördert und kooperiert mit dem Zukunftsnetz Mobilität NRW.
Vorreiter-Städte ausgesucht
Das Projekt untersucht die verkehrspolitischen Maßnahmen in zehn deutschen Städten. Dabei sind fünf Städte, die als Vorreiter für eine nachhaltige Verkehrsplanung gelten: Freiburg, Münster, Darmstadt, Karlsruhe und Bonn sowie fünf Städte, die erst in jüngerer Zeit ambitionierte Ziele in der Verkehrsplanung formulierten: Leverkusen, Bocholt, Dortmund, Alfter und Lünen. Beispiele aus dem europäischen Ausland ergänzen das Bild. Neben der Analyse des Status Quo beleuchten die Forscher auch, welche Gründe es für das Scheitern guter Strategien geben kann.
Im ersten Schritt wurden die fünf Vorreiter-Städte und -Gemeinden ausgewählt. Hierzu diente eine umfassende Literaturrecherche. Welche Kommunen werden häufig mit einer positiven Konnotation genannt? Außerdem wurden Verkehrswissenschaftler*innen befragt, welche Städte und Gemeinde aus ihrer Sicht hervorstechen. Zusätzlich zu den deutschen Vorreitern wurden noch vier Städte aus dem europäischen Ausland untersucht, die international als Vorbilder für eine nachhaltige Verkehrsplanung gelten: Wien, Utrecht, Houten und Zürich. Zunächst verschaffte sich die Arbeitsgruppe um die beiden Professoren einen Überblick über die Möglichkeiten und Herangehensweisen nachhaltiger Verkehrsplanung.
Im zweiten Schritt wurden Verkehrsangebot und -nachfrage der Untersuchungsstädte verglichen. Welche Vorhaben wurden in den Kommunen bereits umgesetzt und wie wirksam waren sie? Wo gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Im dritten Schritt kam die politikwissenschaftliche Seite des Forschungsprojekts hinzu, indem die Verkehrspolitik der einzelnen Städte und Gemeinden analysiert und miteinander verglichen wurde. Dazu führten die Forschenden vor allem Interviews mit Vertreter*innen von Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft. Gleichzeitig griffen sie auf vorliegende Daten zurück: bundesweite Mobilitätsbefragungen, Bestandserhebungen im Straßennetz, Daten zur Verkehrssicherheit und Daten zum PKW-Bestand. Am Ende sollen Empfehlungen für nachhaltige Verkehrsplanung und -politik stehen.
Impuls kommt oft von außen
Karsten Zimmermann kann bereits erste Erkenntnisse nennen: Häufig sind es Impulse außerhalb der Verkehrsverwaltung und -politik, die den entscheidenden Anstoß für Veränderungen geben. „Sogar in den Vorreiterstädten ist es nicht immer die Politik, die den Impuls gibt. Oft wird der Verkehr in den Städten durch soziale Milieus beeinflusst. Erst wenn die Politik den Trend erkennt, zum Beispiel zu mehr Radverkehr, reagiert sie darauf mit dem Ausbau des Radwegenetzes“, erklärt Zimmermann.
Viele Kommunen berichten aber auch von Kommunikationsproblemen. Die Projekte würden nicht bei den Bürger*innen ankommen. Hier attestiert auch Zimmermann Handlungsbedarf: „Die Kommunen müssen die Menschen mit ins Boot nehmen und ihnen die Pläne für eine lebenswertere, nachhaltige Stadt transparent machen. Die Zeichen für eine Bürgerbeteiligung stehen gut, es herrscht Aufbruchstimmung.“ Die Bewegung „Fridays for Future“ oder Pop-up-Fahrradwege seien Beispiele dafür. Die Städte müssten jedoch weg von einer reinen Verkehrs- hin zur Mobilitätsplanung. „Sie müssen Alternativen schaffen, dürfen aber zum Beispiel auch keine Werbung für den Radverkehr machen, solange sie nicht die nötigen Infrastrukturen geschaffen haben. Sonst frustrieren die Negativerfahrungen“, sagt Zimmermann.
Gleichzeitig zeigen die bisherigen Untersuchungen, dass sich die Unterschiede zwischen den Städten auf die kürzeren Wege beschränken. „Schauen wir uns nur den Verkehr innerhalb der Städte an, so dominiert zum Beispiel in Münster der Radverkehr, in Dortmund der PKW. Das ist nicht überraschend. Blicken wir aber auf alle Wege, also auch auf die Wege über die Gemeindegrenzen hinaus, sind die Unterschiede gering“, betont Christian Holz-Rau. Es könne sogar sein, dass die Zunahme des Radverkehrs in den Städten mehr Platz für den einpendelnden Autoverkehr schaffe. Der einheimische PKW-Verkehr nimmt ab, es entsteht mehr Raum für auswärtige Fahrzeuge. Dies sei dann ein sogenannter „Rebound-Effekt“.
Deshalb sei es besonders wichtig, auf interkommunale Abstimmung zu setzen: auf Verkehrsverbünde, die auch wirklich funktionieren und so attraktiv sind, dass der ÖPNV leistungsfähig wird. Karsten Zimmermann nennt ein Beispiel aus Süddeutschland: „Freiburg ist als Lebensraum sehr beliebt. Deshalb gibt es viele, die hier gerne wohnen, aber zur Arbeit auspendeln. Diese weiten Wege sind alles andere als nachhaltig.“ Wie schafft man es, dass die Pendler*innen den ÖPNV nutzen? Hier müsse es viel mehr interkommunale Zusammenarbeit geben, bei der alle das große Ganze im Auge behielten und nicht nur die eigenen Interessen. „Denn die weiten Wege über die Grenzen der Kommunen hinaus sind für die Umwelt eine große Belastung“, sagt Zimmermann.
Städte der Zukunft
Könnten die beiden Professoren eine Wunschliste für die Städte der Zukunft erstellen, würde Christian Holz-Rau im Kleinen anfangen: „Schauen wir uns einmal das Gehwegparken an. Stehende Autos behindern den Fuß- und Radverkehr oder verhindern eine andere Nutzung des Raums für Kinderspiel, Kommunikation oder Außengastronomie. Erschwert die Politik das Parken, sehen wir einen klaren Trend, dass der PKW-Verkehr abnimmt und der städtische Raum an Qualität gewinnt.“ Für die Kommunen ist das Parkraummanagement demnach ein zentraler Hebel. Parkende Autos sollten vom Straßenrand und aus dem Gehwegbereich verbannt werden, damit würde sich die Aufenthaltsqualität verbessern, das Radfahren würde sicherer und das hätte auch positive Auswirkungen auf die Umwelt.
Das ist auch die Vision, die beide Wissenschaftler von lebenswerteren Innenstädten haben: mehr Raum für Aufenthalt, Spiel und Gespräche. Wo immer es möglich ist, sollten Menschen mit dem Fahrrad unterwegs sein. Sie nennen autofreie Quartiere als Beispiele, die großflächiger umgesetzt werden sollten. „Insgesamt lässt sich sagen, dass Maßnahmen wie günstige Tickets für den ÖPNV oder bessere Angebote für den Radverkehr allein nicht die gewünschten Erfolge bringen. Gleichzeitig muss der Autoverkehr beschränkt werden, zum Beispiel durch weniger Fahrspuren, mehr Parkverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen“, fasst Holz-Rau zusammen. Für den Klimaschutz müsste vor allem der Bund konsequenter handeln. „Wer aber Bundesstraßen und Autobahnen ausbaut, macht es den Städten immer schwerer, die Belastungen durch den Autoverkehr zu senken“, sagt Holz-Rau. Karsten Zimmermann ergänzt: „Kleinere elektrische Fahrzeuge in der städtischen Flotte, kleine Elektrobusse, die individueller fahren als die normalen Linien und zum Beispiel per App bestellt werden können, sind eine interessante Zukunftsperspektive. Mehr Fahrradstraßen wären außerdem wünschenswert.“
Welche Erfolgskonzepte die Städte konkret anwenden sollten und wie sie das Ganze bestmöglich kommunizieren, wird das Forschungsprojekt noch zeigen. Es ist im März 2019 gestartet und hat eine Laufzeit von drei Jahren. Danach werden die Ergebnisse den teilnehmenden Kommunen zur Verfügung gestellt. Christian Holz-Rau und Karsten Zimmermann freuen sich auf die letzte Phase des Projektes an der TU Dortmund. „Denn für so eine interdisziplinäre Forschungsarbeit ist die TU Dortmund der ideale Standort“, sind sich die Forscher einig.
Text: Anna-Christina Senske
Zu den Personen
Prof. Christian Holz-Rau ist seit 1998 Professor für Verkehrswesen und Verkehrsplanung an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund. Nach seinem Studium „Planung und Betrieb im Verkehrswesen“ an der Technischen Universität Berlin wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung. Dort wurde er anschließend auch promoviert und im Jahr 1990 habilitiert. Von 2002 bis 2012 war Prof. Christian Holz-Rau Mitglied im Beirat zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Zu seinen Forschungsschwerpunkten an der Technischen Universität Dortmund gehören Strategien und Konzepte einer Integrierten Verkehrsplanung und der Verkehrs- und Mobilitätswende sowie Verkehrserhebungen und Verkehrsmodelle.
Prof. Karsten Zimmermann ist seit 2012 Professor für Europäische Planungskulturen an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Hannover promovierte er im Bereich Landschaftsarchitektur und Umweltentwicklung. Anschließend forschte er am Institut für Landesplanung und Raumentwicklung der Universität Hannover, bevor er 2010 im Fach Politikwissenschaft an der TU Darmstadt habilitierte. Zwischen 2013 und 2017 war er Präsident der European Urban Research Association, seit 2021 ist er Herausgeber des Journals Urban Research & Practice. Seine Schwerpunkte sind die international vergleichende Planungsforschung, Europäische Integration, lokale und regionale Politik und die Verwaltungsforschung.
Dies ist ein Beitrag aus der mundo, dem Forschungsmagazin der TU Dortmund.